Erscheinungsjahr: 2018
Fläche: 17098246 km2 | Bevölkerung: 143440000 |
Religion | Prozent |
---|---|
Christen | 82.20 % |
Muslime | 11.80 % |
Agnostiker | 4.10 % |
Andere | 1.90 % |
«Gläubige, die weder der russischen Orthodoxie noch einer Hauptströmung des Islam angehören, laufen schnell Gefahr, strafrechtlich verfolgt und verurteilt zu werden, wenn sie ihre Religionsfreiheit auf legitime und friedvolle Weise ausüben. Das Verbot der Zeugen Jehovas, ihre Enteignung und die Verhaftung ihrer Mitglieder senden ein starkes Signal an andere religiöse Minderheitsgemeinschaften, die zur Russisch-orthodoxen Kirche oder zum Mainstream-Islam in Konkurrenz stehen.»
Gemäss der Verfassung vom 12. Dezember 19931 ist die Russische Föderation ein säkularer Staat, der die Religions- und Glaubensfreiheit garantiert. So heisst es in Artikel 14(1): „Die Russische Föderation ist ein säkularer Staat. Keine Religion darf als Staatsreligion oder als verbindlich festgelegt werden.“ Artikel 14(2) besagt: „Religiöse Vereinigungen sind vom Staat getrennt und vor dem Gesetz gleich.“ Artikel 28 lautet: „Die Gewissens- und Religionsfreiheit sind einem jeden garantiert; einschliesslich des Rechts, sich einzeln oder gemeinsam mit anderen zu einer beliebigen Religion zu bekennen oder sich zu keiner Religion zu bekennen, sowie religiöse und andere Überzeugungen frei zu wählen, zu besitzen und zu verbreiten und in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln.”2
In Artikel 19 wird die Gleichheit der Rechte aller Bürger ungeachtet ihrer Religion oder ihres Glaubens garantiert. Des Weiteren heisst es dort: „Jede Form der Einschränkung der Menschenrechte aus Gründen der sozialen, rassischen, nationalen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeit ist verboten.“
Gemäss Artikel 29 sind „Propaganda und Agitation, die zu sozialem, rassischem, nationalem oder religiösem Hass und Feindseligkeit aufstacheln“ verboten; ebenso ist das Propagieren einer sozialen, rassischen, nationalen, religiösen oder sprachlichen Überlegenheit untersagt.
Artikel 30 sieht vor, dass ein jeder das Recht auf Vereinigung hat.
Die Grundlage für die Rechtsetzung in religiösen Angelegenheiten bildet das Gesetz über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen3 aus dem Jahr 1997 (mit seinen Novellen bis einschliesslich 2016).
Dieses Gesetz erkennt vier Religionen als „traditionell“ an: die Russisch-orthodoxe Kirche, den Islam, das Judentum und den Buddhismus. Die Römisch-katholische Kirche und die Evangelisch-lutherische Kirche werden in der Praxis meist wie traditionelle russische Religionen behandelt, und ihre Vertreter werden zu offiziellen Anlässen eingeladen. Darüber hinaus würdigt das Gesetz die besondere Rolle der Russisch-orthodoxen Kirche aufgrund ihres historischen Beitrags zur Spiritualität und Kultur des Landes.4
Entsprechend dem Gesetz werden Religionsgemeinschaften in drei Kategorien eingeteilt: religiöse Gruppen, lokale religiöse Organisationen und zentrale religiöse Organisationen.
„Religiöse Gruppen“ sind de facto zwar berechtigt, Rituale und Zeremonien zu begehen, Gottesdienste abzuhalten und religiöse Lehren zu vermitteln; sie sind jedoch nicht staatlich registriert und haben daher keine Rechtspersönlichkeit. Sie können weder Bankkonten eröffnen noch Gebäude errichten, kaufen oder mieten und dürfen auch keine religiöse Literatur veröffentlichen oder importieren.
Um als „lokale religiöse Organisation“ anerkannt zu werden, muss eine Religionsgemeinschaft belegen, dass sie seit mindestens 15 Jahren in Russland besteht.5 Des Weiteren muss sie mindestens zehn volljährige Mitglieder vorweisen, die ihren ständigen Wohnsitz in einem bestimmten Gebiet haben. Die Registrierung erfolgt sowohl auf föderaler als auch auf kommunaler Ebene. Lokale religiöse Organisationen dürfen Konten eröffnen; Gebäude für religiöse Zwecke kaufen, besitzen oder anmieten; religiöse Literatur erwerben, importieren, exportieren und verbreiten; Steuervorteile und andere Zuwendungen in Anspruch nehmen etc. Darüber hinaus können sie Schwesterorganisationen gründen, die dann nicht die 15-jährige Wartezeit bis zur Anerkennung in Kauf nehmen müssen.6
Mindestens drei lokale religiöse Organisationen können sich zu einer „zentralen religiösen Organisation“ zusammenschliessen.7 Ist eine solche Struktur seit mindestens 50 Jahren in Russland präsent und aktiv, darf sie das Wort „Russland“ bzw. „russisch“ in ihrer offiziellen Bezeichnung führen.8
Im November 2015 wurde das Religionsgesetz aus dem Jahr 1997 insofern geändert, als Religionsgemeinschaften, die Finanzmittel aus dem Ausland erhalten, über ihre Aktivitäten, Führungspersönlichkeiten und Budgetplanung an das Justizministerium Bericht erstatten müssen. Zudem hat die Gesetzesnovelle Einrichtungen des Justizministeriums mit der Befugnis ausgestattet, die Finanzaktivitäten von Religionsgemeinschaften ohne vorherige Ankündigung zu prüfen, wenn die betreffende Gemeinschaft Zuwendungen aus dem Ausland erhält oder ein Verdacht auf „Extremismus“ oder rechtswidrige Handlungen besteht.9
Das Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten10 aus dem Jahr 2002 verleiht den Behörden die Macht, die Religions- und Meinungsfreiheit zu beschneiden und zahlreiche religiöse Handlungen zu kriminalisieren.11
So wurde etwa mit Artikel 13 eine „föderale Liste verbotener extremistischer Materialien“ eingeführt. Da jedes Gericht die Möglichkeit hat, Material auf diese Liste zu setzen, kann ein Verbot eines bestimmten Gegenstands, den ein einzelnes Gericht für „extremistisch“ befunden hat, auch landesweit vollstreckt werden.12
Einem Gutachten zufolge, das die Venedig-Kommission der Europarats anlässlich ihrer 91. Vollversammlung (15.-16. Juni 2012) veröffentlichte, ist das russische Anti-Extremismusgesetz in mehrfacher Hinsicht problematisch:
Nach Ansicht der Kommission bietet das Gesetz aufgrund seiner weit gefassten und ungenauen Formulierungen – dies betrifft vor allem gewisse Grundbegriffe (u. a. die Definitionen von „Extremismus“, „extremistischen Handlungen“, „extremistischen Organisationen“ oder „extremistischen Materialien“) – einen zu weitreichenden Ermessensspielraum hinsichtlich der Auslegung und Anwendung; dadurch werde Willkür begünstigt.13
Darüber hinaus heisst es in dem Gutachten:
„[…] Die Handlungen, die im Rahmen des Gesetzes als extremistisch definiert werden und gegen die die Behörden folglich präventive oder korrektive Massnahmen ergreifen können, enthalten nicht alle ein Merkmal der Gewalt und sind keineswegs in ausreichendem Masse so präzise definiert, dass eine Person ihr eigenes Verhalten oder die Aktivitäten einer Organisation derart steuern könnte, dass eine Anwendung solcher Massnahmen ausgeschlossen werden kann. Wenn es Definitionen aber an der erforderlichen Genauigkeit fehlt, kann ein Gesetz wie das Anti-Extremismusgesetz [...] auf schädliche Weise ausgelegt werden. Die Versicherungen von Seiten der Behörden, dass derartige negative Auswirkungen mithilfe der Richtlinien des Obersten Gerichts, der Interpretation des Russischen Instituts für Gesetzgebung und Rechtsvergleichung oder des Grundsatzes von Treu und Glauben vermieden würden, sind nicht ausreichend, um die massgeblichen internationalen Anforderungen zu erfüllen.“14
Im Jahr 2013 wurde ein Gesetz erlassen, das eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren und/oder die Pfändung von bis zu drei Jahresgehältern für die „Verletzung religiöser Überzeugungen und Gefühle“ vorsieht.15
Im Mai 2015 trat das „Gesetz über ausländische Agenten“ in Kraft, mit dem ausländische oder internationale Nichtregierungsorganisationen in Russland verboten werden können, wenn von ihnen eine vermeintliche Bedrohung für die verfassungsrechtliche Ordnung oder die staatliche Sicherheit ausgeht. Aufgrund der vagen Formulierungen ist nicht auszuschliessen, dass dieses Gesetz auch auf Religionsgemeinschaften angewendet wird.16
Im Juli 2016 wurde das sogenannte „Jarowaja-Paket“ verabschiedet, mit dem die russischen Anti-Terrorgesetze weiter verschärft wurden. Von den neuen Einschränkungen sind auch die Religionsgemeinschaften betroffen. So wurden z. B. „missionarische Tätigkeiten“ neu definiert und das Predigen, Beten, Verteilen von Material und Beantworten von Fragen zum Thema Religion ausserhalb der dafür bestimmten Orte untersagt.17 Des Weiteren müssen Russen, die sich missionarisch betätigen wollen, zunächst über eine registrierte religiöse Organisation eine behördliche Genehmigung einholen. Die Einschränkungen gelten auch für Tätigkeiten in Privatwohnungen sowie Online-Aktivitäten.18
Verstösse gegen die gesetzlichen Auflagen werden mit Geldstrafen bis zu umgerechnet ca. 767 CHF für Einzelpersonen und bis zu umgerechnet ca. 15.200 CHF für religiöse Gruppen/Organisationen geahndet. Ausländischen Staatsangehörigen droht im Falle eines Gesetzesbruchs die Ausweisung.19
Ferner ist im Jarowaja-Paket vorgesehen, dass ausländische Missionare eine Einladung einer staatlich registrierten Religionsgemeinschaft vorweisen müssen, bevor sie in Russland tätig werden dürfen; zudem ist ihr Wirkungsbereich auf Regionen beschränkt, in denen ihre Gemeinschaft registriert ist.20
In Dagestan und Tschetschenien hat die Regierung drakonische Massnahmen ergriffen. Hier liessen die Sicherheitskräfte z. B. Menschen verschwinden, die verdächtigt wurden, einen „nichttraditionellen“ Islam zu praktizieren. Ansonsten werden die russischen Anti-Extremismusgesetze im Nordkaukasus eher selten angewendet. In Tschetschenien zwingt Ramsan Kadyrow (der vom Kreml ernannte Präsident der Teilrepublik) der Bevölkerung seine eigene Sicht des Islam auf. Hier müssen alle Frauen die islamischen Kleidervorschriften befolgen. Darüber hinaus sind Zwangsheirat und Polygamie nicht mit Strafe bedroht.21
Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung gingen die Behörden im Nordkaukasus auch gegen friedliche muslimische Dissidenten und gänzlich Unbeteiligte mit keinerlei Verbindung zu politischen Kreisen vor.22
Nach der Annexion der Krim im März 2014 erlegte Russland der Halbinsel seine Gesetze auf. Für die Religionsgemeinschaften bedeutete dies, dass sie sich nach russischem Recht neu registrieren lassen mussten. Viele von ihnen mussten sich neu organisieren, um die Anforderungen zu erfüllen; manche waren gezwungen, die Beziehungen zu ihren Glaubensbrüdern in der Ukraine abzubrechen. Unter der russischen Herrschaft müssen christliche Kirchen und andere Religionsgemeinschaften auf der Krim Razzien, Bussgelder, Beschlagnahmen von Literatur, Überwachungsmassnahmen etc. über sich ergehen lassen.23
Nach Informationen der christlichen Menschenrechtsorganisation Forum 18 wurden innerhalb des ersten Jahres nach Inkrafttreten des Jarojawa-Pakets dreizehn Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Einzelpersonen wegen „missionarischer Tätigkeiten“ angestrengt; betroffen waren u. a. Zeugen Jehovas, Protestanten sowie ein Muslim. Die festgelegten Bussgelder beliefen sich im Schnitt auf zehn Tageslöhne. Weitere 14 Verfahren wurden gegen sieben Gemeinschaften und sieben Einzelpersonen geführt, da sie nicht den offiziellen Namen einer registrierten Religionsgemeinschaft verwendeten. In acht dieser Fälle wurden Geldstrafen in Höhe von 30.000 bis 50.000 Rubel (umgerechnet ca. 465 – 770 CHF) verhängt.24
Alle 22 auf der Krim registrierten Gemeinschaften der Zeugen Jehovas wurden aufgelöst und enteignet.25
Nach der russischen Machtübernahme waren die Ukrainische Griechisch-katholische Kirche und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats auf der Krim nicht länger willkommen und letztendlich gezwungen, die Halbinsel zu verlassen. Die Orthodoxie wird auf der Krim derzeit nur noch von der Russisch-orthodoxen Kirche vertreten.
Am 20. April 2017 verbot das Oberste Gericht der Russischen Föderation das Verwaltungszentrum der Zeugen Jehovas sowie alle 395 lokalen religiösen Organisationen im Land wegen „Extremismus“. Seitdem sind zahlreiche Mitglieder der Glaubensgemeinschaft festgenommen, inhaftiert, diskriminiert oder misshandelt worden. Darüber hinaus kam es zu Störungen von Gebetsstunden und Durchsuchungen von Privatwohnungen. Manchen Zeugen wurde die Arbeitsstelle gekündigt; andere wurden verhört und verfolgt. In vielen Fällen wurde auch ihr Privateigentum mutwillig beschädigt oder sogar vollkommen zerstört.26
Am 25. Mai 2017 führten bewaffnete Beamte des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB eine Razzia auf einen privaten Gottesdienst der Zeugen Jehovas durch und verhafteten den dänischen Staatsbürger Dennis Christensen. Christensen war das erste Mitglied der Religionsgemeinschaft, das nach dem Inkrafttreten des Verbots festgenommen wurde.27 Ein Jahr später befand er sich immer noch in Untersuchungshaft.
Im August 2017 wurde die Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas („Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift“) zur extremistischen Publikation erklärt.28
Bis einschliesslich Mai 2018 waren bereits zwanzig Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas eingeleitet worden. Sieben Mitglieder der Religionsgemeinschaft befanden sich in Untersuchungshaft, zwei standen unter Hausarrest.29 Allen Angeklagten drohen Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren – weil sie sich zum Gottesdienst versammelten. Abgesehen von diesen Strafverfahren hat der Staat auf der Grundlage von Gerichtsbeschlüssen bereits zwischen 90 und 100 Immobilien der Gemeinschaft konfisziert; bezüglich rund 100 weiterer Liegenschaften sind derzeit Gerichtsverfahren anhängig. Darüber hinaus haben die russischen Behörden den Zeugen Jehovas mit der Aberkennung ihrer Elternrechte gedroht.30
Im Mai 2018 veröffentlichten die Vertretungen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika bei der OSZE Stellungnahmen, in denen sie die harsche Repressionspolitik gegen die Zeugen Jehovas in Russland verurteilten.31
Vor dem Hintergrund der Jarowaja-Gesetze geraten Protestanten in Russland hauptsächlich wegen verbotener missionarischer Tätigkeiten ins Visier.
Am 23. November 2016 führte die Staatsanwaltschaft in Wladiwostok eine Durchsuchung bei der Heilsarmee durch und eröffnete ein Verfahren gegen die Freikirche – mit der Begründung, dass sie „im Rahmen ihrer missionarischen Tätigkeit Literatur und Printmaterialien verwendet und verteilt, die nicht als Publikationen der religiösen Organisation gekennzeichnet sind“. Am 20. Dezember 2016 wurde die Heilsarmee in Wladiwostok für schuldig befunden, in ihrer Gebetshalle religiöse Literatur (darunter 36 Bibeln sowie Liedersammlungen) aufbewahrt zu haben, die nicht ordnungsgemäss mit dem Namen der Gemeinschaft versehen war. Das Urteil, demzufolge die Bibeln zerstört werden sollten, erregte jedoch einen derart lauten öffentlichen Aufschrei, dass die Entscheidung des Gerichts angefochten wurde. Am 30. Dezember 2016 erging ein geänderter Beschluss: Der Abschnitt bezüglich der Zerstörung der beschlagnahmten Bücher wurde gestrichen, der Rest blieb jedoch unverändert. In letzter Instanz wurde das Urteil vom Verfassungsgericht aufgehoben.32
Der indischstämmige protestantische Pfarrer Victor-Immanuel Mani, der mit einer Russin verheiratet ist und ein in Russland geborenes Kind hat, war der erste Ausländer, gegen den im Rahmen der verschärften Gesetze eine Abschiebungsanordnung erging (gemäss Artikel 5 Abs. 26 Teil 5 des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes: „Ausländer, die eine missionarische Tätigkeit ausüben“). Am 20. Dezember 2016 befand das Amtsgericht von Nabereschnyje Tschelny ihn für schuldig, in den sozialen Medien für religiöse Versammlungen geworben und religiöse Literatur an ein Nichtmitglied seiner Kirche weitergegeben zu haben. Mani wurde zusätzlich zu einer Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (umgerechnet ca. 465 CHF) verurteilt.33
Zu Beginn des Jahres 2018 wurde ein namentlich nicht genannter Baptist (russischer Staatsbürger) wegen Verletzung der Anti-Missionierungsgesetze angeklagt, nachdem er in seiner Wohnung missionarische Tätigkeiten durchgeführt hatte, ohne diese bei den Behörden angemeldet zu haben; darüber hinaus warf man ihm vor, religiöse Literatur an Personen ausserhalb seiner Religionsgemeinschaft verteilt zu haben. Er wurde schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 6.000 Rubel (ca.90 CHF) verurteilt. 34
Am 16. Mai 2018 wurde Nosisa Shiba, Studentin im Abschlussjahr an der Medizinischen Akademie von Nischni Nowgorod und swasiländische Staatsbürgerin, gemäss Artikel 18 Abs. 8 Teil 4 des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes angeklagt. Die junge Frau, die seit ihrer Kindheit Protestantin ist, ging seit ihrer Ankunft in Russland regelmässig in eine evangelische Kirche in Nischni Nowgorod. Der Inlandsgeheimdienst FSB entdeckte ein Video auf YouTube, in dem die junge Frau in dieser Kirche ein Lied über Gott und seine Liebe zu den Menschen sang. Ein Gericht verurteilte die Studentin zu einer Geldbusse von 7.000 Rubel (ca. 107 CHF) und verfügte, dass sie nach Beendigung des Studiums das Land verlassen muss.35
Mit Stand Mai 2018 befanden sich vier Mitglieder der in Russland verbotenen Nurculuk-Bewegung im Gefängnis: Ilgar Vagif-ogly Aliyev (in Untersuchungshaft seit April 2017), Ziyavdin Dapayev (in Untersuchungshaft seit März 2016), Bagir Kazikhanov (wegen „Beteiligung an Aktivitäten einer verbotenen Organisation“ zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt) und Yevgeny Lvovich Kim (aus demselben Grund zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt).36
Auch im Jahr 2018 waren Hindus Opfer von Diskriminierungen und wurden von Anti-Sekten-Aktivisten schikaniert. In diesem Zusammenhang spielte vor allem Alexander Dvorkin eine Rolle. Er ist Vize-Präsident der in Frankreich ansässigen, öffentlich geförderten Fédération Européenne des Centres de Recherche et d’Information sur le Sectarisme (FECRIS; Europäische Föderation der Zentren für Forschung und Information über das Sektenwesen). Es besteht Grund zu der Annahme, dass Dvorkins Aktivitäten zu physischen Übergriffen auf Mitglieder der Hindu-Gemeinschaft geführt haben, darunter die Razzia auf das Wohnhaus und spirituelle Zentrum des Hindu-Führers Shri Prakash Ji im November 2017.37
Am 6. Juni 2017 wurden Sakhib Aliev, Ivan Matsitskiy, Galina Shurinov und Anastasia Terentieva, Mitglieder der Scientology-Kirche, in Sankt Petersburg festgenommen. Ihnen wurden die Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation, das Führen eines illegalen Geschäfts, die Aufstachelung zu Hass sowie Verletzungen der Menschenwürde zur Last gelegt, und sie wurden gemäss Artikel 171 des russischen Strafgesetzbuchs (der nichteingetragene Geschäftstätigkeit verbietet) und Artikel 282 und 282.1 angeklagt (mit denen die Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation bzw. die Durchführung damit verbundener Aktivitäten unter Strafe gestellt wird). Im Mai 2018 befanden sich die vier Scientologen immer noch in Untersuchungshaft.38
In Russland hat sich die Situation der Religionsfreiheit in den letzten zwei Jahren verschlechtert. Für eine baldige Trendwende gibt es derzeit keine Anzeichen.
Das Religionsgesetz von 1997 sowie die ideologischen Standpunkte und die Massnahmen, die die russischen Behörden seitdem vertreten bzw. ergriffen haben, sind allesamt von dem Bestreben inspiriert, die „spirituelle Sicherheit“ Russlands zu gewährleisten – ein neues Konzept, mit dem die Russisch-orthodoxe Kirche in den Rang einer „Hüterin nationaler Werte“ erhoben wird.
Im Präsidialdekret Nr. 24 zum „Nationalen Sicherheitskonzept“ vom 10. Januar 200039 heisst es: „Zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation gehören auch der Schutz des kulturellen, spirituellen und moralischen Erbes, der historischen Traditionen und der Normen des gesellschaftlichen Lebens; die Wahrung des kulturellen Reichtums aller Völker Russlands […] sowie Massnahmen gegen den negativen Einfluss von Religionsgemeinschaften und Missionaren aus dem Ausland.“
Dieses Konzept liefert möglicherweise eine Erklärung für die „religiöse Säuberung“, die derzeit im Gange ist und zunehmend Auftrieb erhält.
Trotz des kritischen Gutachtens der Venedig-Kommission wurden die russischen Anti-Extremismus- und Anti-Missionierungsgesetze nur geringfügig geändert. Somit laufen Gläubige, die weder der russischen Orthodoxie noch einer Hauptströmung des Islam angehören, schnell Gefahr, strafrechtlich verfolgt und verurteilt zu werden, wenn sie ihre Religionsfreiheit auf legitime und friedvolle Weise ausüben. Das Verbot der Zeugen Jehovas, ihre Enteignung und die Verhaftung ihrer Mitglieder – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine traurige Premiere – senden ein starkes Signal an andere religiöse Minderheitsgemeinschaften, die zur Russisch-orthodoxen Kirche oder zum Mainstream-Islam in Konkurrenz stehen.
Ein Lichtblick ist die gemeinsame Position von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland: Die beiden Oberhäupter wollen sich mit vereinten Kräften für den Schutz und die Unterstützung der Christen im Nahen Osten einsetzen.